Bild: Luzia Simons, Stockage 76, 2009, Lightjet print Diasec, Ed. 3 + 1 AP, 300 x 441 cm in three parts / Copyright © Luzia Simons, VG Bild-Kunst Bonn 2021, All rights reserved

 

 

Seit 28 Jahren bietet das Kunstfestival ROHKUNSTBAU eine Plattform für internationale und regionale künstlerische Begegnungen. Mit dem Projekt CADIVI (Contemporary ARTHUB, Digital Presentation and Virtual Guidance) wird die Ausstellung digitalisiert, durch Informationen begleitet und regional verankert.

 
 

ROHKUNSTBAU 26

Ich bin Natur. Von der Verletzlichkeit.
Überleben in der Risikogesellschaft.

ROHKUNSTBAU 26 ist die zweite Ausstellung, die unter Corona-Bedingungen entstand und durchgeführt wird. Die Corona-Pandemie hat die Situation von Künstlern und Künstlerinnen erschwert. Die Präsentation der eigenen Arbeiten in Ausstellungen, die Kommunikation mit Anderen über die eigene Arbeit fehlte über viele Monate. Ausbleibender Verdienst gehört ebenso zu den Folgen der Schließungen und ständig verschobenen Ausstellungen.

Wir hoffen alle, dass Naturwissenschaft und Medizin die Corona-Pandemie besiegen werden und alle zu den geliebten Lebensformen zurückkehren können. Doch diese Hoffnung kann enttäuscht werden. Natur und der Mensch ist ein Teil davon, hat ein fragiles Gleichgewicht und funktioniert nur in diesem Gleichgewicht. Die stetige Schaffung von Unwucht im natürlichen Zusammenspiel von Pflanzen, Tieren und Menschen zu Gunsten eines konsumorientierten Lebensstils, hat derzeit unabsehbare Folgen oder der Ausweg ist offen. 

 

ROHKUNSTBAU 26 widmet sich mit dem Thema „Ich bin Natur - Von der Verletzlichkeit. Überleben in der Risikogesellschaft“ (19.06. - 03.10.2021) den tiefen existenziellen Unsicherheiten, die durch die Corona-Pandemie für viele Menschen ausgelöst worden sind. Ausgangspunkt ist unser Verhältnis zur Natur und das durch Allmachtsvorstellungen geprägte instrumentelle Naturverständnis und seine Folgen. Schon lange mehren sich die wissenschaftlichen Stimmen, die kausale Zusammenhänge von Klimawandel und Verlust der Artenvielfalt einerseits, und Zurückdrängen der Lebensräume anderer Lebewesen mit dem Ausbruch von Pandemien andererseits in eine fruchterregende Beziehung setzen. Die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen durch den Menschen, setzt die Menschheit den Gefahren von Krankheit und Tod aus. Durch Ängste in Zeiten der Pandemie bedenken Menschen die Verantwortung für das eigene Handeln nicht, sondern projizieren diese auf die Natur selbst und die unsichtbaren Gefahren. Viren, die Menschen nicht sehen, hören, tasten, schmecken oder riechen können, zerstören den Alltag.

 

Die Reaktion auf die Pandemie, die Angst vor dem Nichtwahrnehmbaren, erinnert an die Atomkatastrophen von Fukushima vor 10 Jahren und Tschernobyl vor 35 Jahren. Radioaktivität, die von Menschen nicht wahrgenommen werden kann, trat in großem Umfang als Folge der Katastrophen in die Umwelt. Im Falle des Nichtwahrnehmbaren verlieren Menschen zunehmend die Möglichkeit, sich selbst zu schützen. Dies ist eine schwere, zunächst individuelle und dann auch gesellschaftliche Belastung. Gleichzeitig dreht sich die Ausstellung auch darum, welche Optionen, Chancen und neue kulturelle Strategien aus dem Bewusstsein der Bedrohung erwachsen.

 

Die Werke der 22 eingeladenen, international tätigen Künstler und Künstlerinnen wurden entweder für die Ausstellung im Schloss Lieberose konzipiert oder sorgsam aus ihrem Bestand ausgewählt. Das Thema „Ich bin Natur“ zieht sich durch die ausgestellten Werke der eingeladenen Künstler und Künstlerinnen. Bei vielen der eingeladenen Künstler und Künstlerinnen ist dieses Thema bestimmend in ihrem Werk.

 

Die Arbeiten reichen von subtilen Interventionen in den Schlossräumen (Daniel Steegmann Mangrané) über das skulptural gefasste Gefühl der Angst (Michael Morgner), dem Anschauen des Unbehagens (Kapwani Kiwanga) bis hin zur hoffnungsvollen Geste, eigene Wünsche an Bäume hängen zu können (TOWER OF LOVE von Yoko Ono). 

 

Mit allen Sinnen soll die Kunst erlebt werden, wie in den Arbeiten von Tong Kunniao - da es doch häufig um unaussprechliche Zwischenbereiche geht. In der ehemaligen Schlossküche bewegt sich der Besucher durch sieben Tonnen Sand zur Kunst von Michael Müller. Und bestehende Kulturtechniken wie die Erinnerung an lieb gewonnene Gegenstände unserer Großeltern oder bewusste Entspannungsmethoden durch suggestives Meeresrauschen (Laure Prouvost) sollen helfen, die eigene - spürbar haltlos gewordene Existenz – neu zu verankern, wie es Armin Boehm in seinen „Beziehungsbildern“ aus der Zeit der Pandemie aufzeigt.

 

„Ich bin Natur“ lautet das Credo der Ausstellung. Der Mensch ist ein Teil der Natur, er steht nicht über der Natur. Es scheint eine banale Erkenntnis, die dennoch Sprengkraft besitzt. Denn es ist eine tief in den Menschen und in die Gesellschaft eingeschriebene Wahrheit, die ebenso sinnstiftend, freudvoll und erschreckend ist (etwa bei Gilbert & George und Anna Rún Tryggvadóttir). 

 

Ein großer Bereich der Natur zeichnet sich durch ihre sichtbaren und wirkmächtigen Kräfte aus. Etwa zerstörerisches Feuer wie in den Zeichnungen von David Claerbaut, graphische Spuren von Wasser im Sand, bedingt durch die Gezeiten (Daniel Steegmann Mangrané), natürliche Manipulationen in der Botanik (Jochen Dehn) und kolonialisierende Pflanzen (Nadia Lichtig). 

 

Das aufkommende neue Unbehagen in der Gesellschaft resultiert aus dem Scheitern unseres Umgangs mit der Natur – mit den Folgen der Zerstörung der Ökosysteme. Die Pandemie brachte diese Gefahren und damit verbundenen Ängste nach Europa, welche Menschen auf anderen Kontinenten längst erleiden. In der Auseinandersetzung mit der zivilen und militärischen Nutzung der Atomkraft verweisen Künstler*Innen wie Yhonnie Scarce, Claudia Chaseling sowie Nina Fischer & Maroan el Sani und Luzia Simons auf das kollektive Gedächtnis der apokalyptischen Bilder der Katastrophen.

 

Kuratorin: Dr. Heike Fuhlbrügge