26. ROHKUNSTBAU 2021
Ich bin Natur. Von der Verletzlichkeit. Überleben in der Risikogesellschaft.
Dauer: 19 . Juni 2021 – 3. Oktober 2021
Ort: Schloss Lieberose
Niemand weiß, wann und woran er stirbt. Dennoch spielt der Tod im Alltag kaum keine Rolle. Die moderne westliche Zivilisation hat es geschafft, dieses Thema fast vollständig zu verdrängen. Der Tod wird wie ein Einbruch des Natürlichen in eine perfekt organisierte Welt wahrgenommen. Zu Beginn des Jahres 2020 hat sich das grundlegend verändert.
Armin Boehm, © Jan Brockhaus
Durch das neuartige Corona-Virus erlebten insbesondere die Menschen in Europa, wie schnell ihr Leben bedroht sein kann. Die Verletzlichkeit ihrer Existenz und die Schicksalshaftigkeit ihrer Situation wurden spätestens deutlich, als in Bergamo eine Kolonne von Lkw mit Särgen das Krankenhaus verließ. Diese Bilder mögen den Moment des Frühjahrs 2020 festhalten, sie haben einen ikonografischen Charakter erhalten. Denn es ist nach wie vor eine unglaubliche Verdrängungsleistung der westlichen Zivilisation, die Endlichkeit des Seins weitestgehend aus dem Leben auszuklammern. Tödliche Katastrophen finden nicht in Westeuropa statt, sondern auf anderen Kontinenten. Gestorben wird auf der Leinwand, aber nicht in der Realität.
Nur: Auf einmal war sie da, die Ungewissheit. Das neuartige Coronavirus ist nicht greifbar und doch für viele Menschen lebensgefährlich. Zunächst wollte man sich darüber hinwegretten, dass es nur alte Menschen treffen würde, aber schon bald mussten sich die Menschen gewahr werden, dass das Leben von bis zu 50 Prozent der Bevölkerung bedroht sein kann. Die eigene Existenz, deren Verletzlichkeit war auf einmal ein Thema, über das gesprochen wurde. Die Texte existenzialistischer Autoren wie Albert Camus, Jean-Paul Sartre oder Simone de Beauvoir erfuhren schlagartig eine erneute Aktualität. Dabei wurde nur deutlich, was im Grunde immer schon gewusst wurde. Doch durch die Schnelligkeit der Ausbreitung des Virus und das Gefühl diesem weitgehend schutzlos ausgeliefert zu sein, ließ die Corona-Pandemie die Welt wie durch ein Brennglas auf die Verletzlichkeit der Existenz blicken.
Etienne Chambaud, Nameless, 2019, Kojoten-, Eichhörnchen- und Kaninchenurin verschiedene Chemikalien, Kupferpulver, Acryl und Acryllack auf LW, 42,5 x 32,5 x 3,5 cm; Etienne Chambaud, Nameless, 2019, Kojoten-, Eichhörnchen- und Kaninchenurin verschiedene Chemikalien, Kupferpulver, Acryl und Acryllack auf LW, 42,5 x 32,5 x 3,5 cm; Courtesy by the Artist and Esther Schipper, Berlin. © Jan Brockhaus
Eine unangenehme Einsicht, denn schließlich schienen doch bis vor kurzem gerade Epidemien als weitgehend besiegt. Die Geiseln früherer Jahrhunderte gehören schon lange der Vergangenheit an. Sauberkeit, Impfungen und eine leistungsstarke Medizin erzeugten den Anschein, in den hochtechnisierten Ländern seien die Menschen vor den Gefahren bakteriologischer Erkrankungen oder Virusinfektionen geschützt.
Ein Trugschluss. Denn eingeholt hat die westliche Zivilisation letztlich ihr Verhältnis zur Natur. Der Gedanke, die Natur vollständig beherrschen und für die menschlichen Zwecke unbeschränkt nutzen zu können, hat ungeahnte und, wie wir heute wissen, häufig ungewollte Folgen. So war der Anfang der Infektion mit dem neuartigen Virus ein Übergang von Tier zum Menschen, die Zoonose, die besonders gehäuft aufgrund des anwachsendes Artensterben auftreten kann. Das stetige Artensterben, die Verengung von Lebensräumen von Tierpopulationen, gleichzeitige Monokulturen in der Tierzucht schaffen neue Risiken für die menschliche Zivilisation, da das Gleichgewicht zwischen den Arten nicht mehr gegeben ist. Die Ausbreitung von Krankheitserregern unter den Tieren wird dadurch bereits erleichtert, die Möglichkeit der Übertragung auf den Menschen vergrößert sich und damit auch die Möglichkeit neuartige Krankheiten bis hin zu Pandemien auszulösen.
Claudia Chaseling, blind spots, 2021, Aluminium, Pigmente und MDM-Bindemittel auf ovaler LW, 250 cm x 150 cm ovoid; Claudia Chaseling, deluge of delusion 2, 2021, Aluminium, Pigmente und MDM-Bindemittel auf ovaler LW
250 cm x 150 cm ovoid; Claudia Chaseling, end of story 2, 2020, Aluminium, Pigmente und MDM-Bindemittel auf ovaler LW, 200 cm x 120 cm ovoid; Claudia Chaseling, muddy waters 1, 2020, Aluminium, Pigmente und MDM-Bindemittel und Öl auf LW 170 cm x 170 cm; © Jan Brockhaus
Die jüngste Pandemie kann nur als ein Beispiel gelten dafür, dass Prozesse, die von der Zivilisation in der Natur ausgelöst werden, nicht immer so kontrolliert werden können, wie wir uns das vorstellen. Ein anderes, mittlerweile klassisches ist die Atomkraft. Generationen von Wissenschaftlern waren in der Vergangenheit davon besessen, mit dieser Hochtechnologie eine bessere Welt zu schaffen. Die Grenzen ihrer Beherrschbarkeit haben sich in den Katastrophen von Tschernobyl am 26. April 1986 und fast genau 25 Jahre später am 11. März 2011 in Fukushima gezeigt. 2021 jährt sich der atomare Unfall im Atomkraftwerk Fukushima zum 10ten Mal, der GAU von Tschernobyl zum 35. Mal.
Der derzeit offensichtlichste unter den unbeabsichtigten Nebeneffekten des westlichen Lebensstils ist der Klimawandel. Verdrängt werden kann diese existenzielle Bedrohung im globalen Norden derzeit nur, weil bislang vor allem Menschen auf anderen Kontinenten betroffen sind. Doch im Grunde wissen alle, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis die menschliche Existenz als solche bedroht sein wird. Es sei denn, es setzt sich die Einsicht durch, dass ein anderes Zivilisationsmodell erforderlich ist.
David Claerbout, Wildfire (Strange How Watercolor Lends Itself to Fire), 2019, Tusche und Bleistift auf Papier, auf Karton montiert, 36 x 51 cm; David Claerbout, Wildfire (Single tree on fire by watercolour), 2019, Tusche und Bleistift auf Papier, auf Karton montiert, 36 x 51 cm, Courtesy by the Artist and Esther Schipper, Berlin. © Jan Brockhaus
Die Eingriffe in die Natur, aber auch einfach die in der Natur ausgelösten Veränderungen durch unsere Lebensform setzen uns zunehmend einer wiederkehrenden existenziellen Bedrohung aus, die es doch gerade zu beseitigen galt. Der Mensch ist damit zunehmend nicht vorhersehbaren Folgen seines über Jahrhunderte tradierten instrumentellen Umgangs mit der Natur ausgesetzt. Diese sogenannten Kollateralschäden führen uns einerseits die Fragilität der menschlichen Existenz vor Augen, verweisen uns anderseits aber notwendig darauf, dass die Zukunft nicht kalkulierbar, sondern im Guten wie im Schlechten radikal offen ist.
Mit der 26. ROHKUNSTBAU-Ausstellung „Ich bin Natur. Von der Verletzlichkeit. Überleben in der Risikogesellschaft“ werden diese Fragen aufgegriffen. Die Ausstellung ist eine Annäherung an die Frage, wie Menschen in der Lage sind, die eigene Existenz durch gesellschaftliche Entscheidungen und Vorstellungen in Frage zu stellen und welche Handlungsmöglichkeiten aus dem Bewusstsein der Bedrohung der eigenen Existenz erwachsen können.
Jochen Dehn, Bowling Ball Beach 2 (2013) 2021, Ulmenholz, Maße variabel. © Jan Brockhaus
Nina Fischer & Maroan el Sani, Spirits Closing Their Eyes, 2021. © Jan Brockhaus