ROHKUNSTBAU XXV. 2020

Zärtlichkeit/Tenderness
Vom Zusammenleben/About Common Living


Die XXV. Ausgabe der Brandenburger Ausstellung ROHKUNSTBAU findet 2020 in Schloss Lieberose statt. Das Thema der Jubiläumsausstellung widmet sich einem individuellen und gesellschaftlichen Thema zugleich: Zärtlichkeit – Tenderness. 20 Künstlerinnen und Künstler, die alle bereits an früheren ROHKUNSTBAU-Ausstellungen teilgenommen haben, wurden eingeladen, um für den XXV. ROHKUNSTBAU neue Werke zu produzieren.

 

Via Lewandowsky, Au Au, Neonlicht, MP3-Player, Zufallssteuerung, 200 x 45 cm, 2015, ©VG Bild Kunst, © Jan Brockhaus

Ich hab geträumt, der Winter wär vorbei / Du warst hier und wir waren frei. Und die Morgensonne schien. Es gab keine Angst und nichts zu verlier’n, / Es war Friede bei den Menschen und unter den Tier’n. / Das war das Paradies.
— Ton, Steine, Scherben, Der Traum ist aus, 1972
 
 

Der XXV. ROHKUNSTBAU stellt die Frage nach dem Blick des Menschen auf die Welt und damit nach dem Blick des Menschen auf sich, den Nächsten und die Menschheit als Ganzes. Wie begegnen sich die Menschen und wie begegnen die Menschen der Welt, ihrer Umgebung, der Umwelt? Entfremdet? Ohne Antwort? Ist die Welt schon verstummt?




Wir leben angeblich im Zeitalter der Kommunikation. Die Leute sind sich über Kontinente hinweg so nah wie nie und sie erfahren über die Anderen so viel wie nie zuvor in der Geschichte der Menschheit. Das hat sich nicht zuletzt mit dem Ausbruch der Corona-Pandemie gezeigt. Dennoch sind wir fähig, das Unglück der Anderen, seien es Krankheit, Hunger, Krieg, bittere Armut, Gewalt, Diktaturerfahrungen oder Flucht, zu akzeptieren - und sogar den Tod Anderer, z.B. bei der Flucht über das Mittelmeer in Kauf zu nehmen. Dennoch ist es möglich, Naturzerstörung und sogar die unmittelbar absehbaren Folgen des Klimawandels geschehen zu lassen. Das Wissen um unhaltbare Zustände ist präsent. Wie ist es also möglich, das zu ignorieren? Wie kommt es zu dieser Distanzierung der Individuen von der Welt, was in den Sozialwissenschaften von jeher wahlweise als Entfremdung und Verdinglichung, letztendlich als einer Entfremdung der Subjekte von sich selbst gefasst wird?

 

Christiane Möbus nach dem Aufbau, © Jan Brockhaus

Now I only know it in part / Fractions in me / Of faith and hope and love / And of these great three / Love’s the greatest beauty / Love / Love / Love
— Joni Mitchell, Love, 1982
 
 

Auch wenn das kollektive Klatschen für die Helden des Alltags im Kampf gegen die Corona-Pandemie, das gemeinsame Singen auf dem Balkon in den abgeriegelten Quarantäne-Vierteln von Wuhan bis Milano, der rege Austausch über die Sozialen Medien daran erinnern, wie dringend die Anderen gebraucht werden, zu befürchten ist, dass das Humane, die Humanität, in den Gesellschaften zunehmend seinen Platz verliert. Die Menschenwürde und die Menschenrechte bleiben im Abstrakten stecken und verlieren ihre Verankerung im Alltag.

 

Aufbau von Alicja Kwade, Megasubstance, 2020, © Jan Brockhaus

Und es ist dieser bewundernswerte Wille, nichts zu trennen noch abzusondern, der immer wieder das leidende Herz der Menschen versöhnt hat.
— Albert Camus, Prometheus in der Hölle, 1954
 
 

Es geht also heute mehr denn je darum, dass Menschen sich als Menschen begegnen. Zärtlichkeit und Liebe sind dabei Bedürfnisse und Gefühle, die Menschen von Geburt an zu Menschen machen und eben von Geburt an unsere Fähigkeit bestimmen, mit anderen Menschen umzugehen. Der individuelle Begriff der Zärtlichkeit und Liebe geht in den gesellschaftlichen Begriff der Nächstenliebe oder in den politischen Begriff der Solidarität über. Die Sehnsucht nach Zärtlichkeit und Liebe, nach gesellschaftlichem Zusammenleben in Nächstenliebe, Respekt und Solidarität, die diesen Haltungen Vorrang gibt, ist jedoch in einem stetigen Widerstreit mit anderen Lebensentwürfen und Vorstellungen von Gesellschaft. Ohne sie bleibt aber nur die Barbarei – mit ihnen bleibt die Möglichkeit eines Lebens in Würde auf diesem Planeten.

 

Pressebesichtigung von Ola Kolehmainen, Das ist der Dom in Coeln, 2019, ©Jan Brockhaus

Doch holte uns ein, der einen Knaben führte: ein übermüdeter Mann / sein Waffenrock war von Sommern versengt, / und er trug einen Alten, den schlaffen Vater, auf beiden Schultern. / Da wurde es Tag vor unseren Augen mit rosenblättrigem Licht.
— Heinz Piontek: Die Verstreuten, 1957
 
 

Die XXV. Ausstellung von ROHKUNSTBAU hat sich zum Ziel gesetzt, den Themenkomplex „Zärtlichkeit -Tenderness. Vom Zusammenleben / About Common Living“ mit den Mitteln der bildenden Kunst zu bearbeiten und zu interpretieren. Hierfür wurden 20 Künstlerinnen und Künstler eingeladen, die bereits in der Vergangenheit an einer der ROHKUNSTBAU-Ausstellungen teilgenommen haben. Sie befassen sich mit den Anforderungen einer „Politik der Zärtlichkeit“ und suchen ihre individuellen ästhetischen Antworten auf aktuelle Gewaltverhältnisse zwischen Mensch und Mensch bzw. Mensch und Natur. Damit reflektiert diese Ausstellung zugleich die künstlerischen Wege dieser international anerkannten Künstlerinnen und Künstler seit ihrer ersten Teilnahme.

 

Leiko Ikemura im Pressegespräch, © Jan Brockhaus

Imagine there’s no heaven.
— John Lennon, Yoko Ono, Imagine, 1971
 

Via Lewandowsky, Alles was der Fall ist, Straßenlaterne, Beton, MP3-Player, Maße variable, 2015, ©VG Bild Kunst, © Jan Brockhaus

Noch fühlen wir. / Noch können wir lieben. Noch fühlen wir / Mitleid. / Es ist ein Glanz in allen Dingen. Ich habe ihn gesehen. / Nun sehe ich klarer noch. / Ein Glanz. Hab keine Angst.
— Mariangela Gualtieri, Paessaggio con fratello rotto, 2007, übersetzt von Gritt Fröhlich